on 19 June 1997

Die Ewigkeit ist bloss eine Momentaufnahme

Ein Himmel voller Baelle. Jauchzen liegt in der Luft. Auf dem riesigen, halbkreisfoermigen Platz vor dem in all seiner architektonischen Pracht gruen daherleuchtenden Winterpalast von St. Petersburg hat man an die hundert Basketballkoerbe aufgehaengt, und die Jugend der Stadt rennt und springt und wirft um die Wette. Adidas hat einen Teil der Stadt im Sprunglauf genommen.

Tausend Meter weiter treffen sich hinter den gelbgestrichenen klassizistischen Nobelfassaden der Rossi-Strasse, die das Waganowa-Institut beherbergt, die altehrwuerdige Ballettschule des einst kaiserlichen Marientheaters, die grazilen alten und juengeren Damen des Lehrkoerpers mit ihren Kollegen zur Halbhundert-Jahrfeier des Bestehens des beruehmten Ballett-Museums. Wie grazioes man Teetassen halten kann, lernt sich bei dieser Gelegenheit.

Marina Leonidova Vivien, die Meisterin, fuehrt mich herum. Grossaeugig laechelt Anna Pawlowa von den ihr gewidmeten Waenden. Im Glaskasten welken, braeunlich inzwischen, die einst rosigen Blaetter des Kostuems, in dem Nijinsky einst den "Spectre de la rose" tanzte. Maria Taglionio wird im Bilde beschworen, die angeblich als erste den Tanz auf die Spitze trieb. Nurejew und Makarowa, beide Zoeglinge des Instituts, werden nicht gerade ueberschwenglich gefeiert. Aus der St.Petersburger Jahrhundertperspektive nimmt sich ihre kuenstlerische Leistung offenbar nicht ueberlebensgross aus.

Sie haben auf ihre grossartig persoenliche Weise mitgetanzt, mehr aber nicht; wie auch Juri Solowjew, Baryschnikow und Panov. Ewigkeit ist in der Rossi-Strasse kein Donnerwort, eher ein Liebesgefluester in Momentaufnahmen. Ein Zeitalter tanzt in vergilbenden Schnappschuessen, tapetengleich ausgebreitet, noch einmal vorueber. Andacht ueberspinnt alle Waende. Sie sind laengst ausverkauft.

Im Russischen Museum geht der Tanz weiter. Ida Rubinstein, von Serov gemalt, beunruhigend knochig, wirkt wie die leibhaftige Muse von Bernard Buffet. Sudeikins Bildern sieht man von weitem an, warum ihn Frau Vera verliess, um lieber Madame Strawinsky zu werden. Von Roerich, der gemeinsam, mit Strawinsky das Libretto zum "Sacre" schrieb und das Dekor fuer die Pariser Urauffuehrung entwarf, hortet das Museum, wie es heisst, noch hunderte von Gemaelden im Keller. Sein Nachlass, weltweit, wird auf siebentausend Bilder geschaetzt. Seine Kunst steht bei Mystikern und Esoterikern hoch im Kurs.

Unter den strahlend weissen Saeulengaengen der St. Petersburger Philharmonie, dem wundervoll proportionierten alten Ballsaal des Adels, gibt Gabriel Marghieri, in Chartres zum Preistraeger im Improvisieren ausgerufen, ein Orgelkonzert modernster Bauart. Dabei ist Marghieri Hauptorganist von Sacre Coeur in Paris. Er ist einer der achtzehn bestechenden Teilnehmer am achttaegigen "Olymp der Musik", dem staunenerregenden Festival, das Irina Nikitina Haefliger nun schon zum zweiten Mal in St. Petersburg durchfuehrt. Hier treffen sich frischgebackene Musikpreistraeger aus aller Welt und in allen erdenklichen Instrumental-Kategorien. Wie die Zukunft klingen wird, lernt man hier.

Mariss Jansons ist als glaenzender Dirigent zur Stelle, um die St. Petersburger Philharmoniker dem bei Bron in Luebeck ausgebildeten siebzehnjaehrigen japanischen Geiger Daishin Kashimoto zuzugesellen, der allein im Vorjahr fuenf Wettbewerbe gewonnen hat, darunter so namhafte wie den Fritz Kreisler gewidmeten in Wien und den Thibaud-Wettbewerb in Paris. Der junge Japaner wagt sich auf dem heissen Petersburger Pflaster zu allem UEberfluss an Tschaikowskys Violinkonzert und gibt ihm auf betoerende Art neue Frische.

Andrй Henrys Trompete wirft sich ueber die massive Instrumentation des Konzerts von Ivan Jestic markig hinweg und schwelgt virtuos vor sich hin. Die Australierin Diana Doherty brilliert im spaeten Oboenkonzert von Richard Strauss. Den Vogel aber schiesst wieder - wie zuvor schon beim Van-Cliburn-Wettbewerb in Fort Worth - Jan Gottlieb Jiracek ab, der das Klavierkonzert in Es-Dur von Franz Liszt spielt, anschliessend die "Rhapsodie in Blue" von Gershwin und als Zugabe ein bisschen Granados. Sieghafter als Jiracek kann ein junger Pianist ein Konzert kaum bestehen.

Im Kellerrestaurant auf dem Kneipenklavier spielte Jiracek hinterher, ohne sich deswegen gleich fuer einen anderen Gulda zu halten, froehlich, unbefangen und unbeschwert seinen Gershwin weiter, gutgelaunt assistiert von Miss Dohertys Oboe und der Trompete von Monsieur Henry. Petersburger Naechte sind eben nicht nur weiss und lang, sondern dank Irina Nikitina vor allem voller Musik.

 

Author: Klaus Geitel   Edition: Berliner Morgenpost   Date: 19.06.1997