on 01 May 1998

Olymp der jungen Goetter

Mit elf Jahren ist sie geflohen: Als der kleinen Irina Nikitina die rauhe Behandlung in einem Leningrader Kinderkrankenhaus zuviel wurde, strickte sie unter der Bettdecke heimlich ein Seil, an dem sie sich in eisiger Februarnacht aus dem zweiten Stock des Spitals hinabliess. Bei zwanzig Grad minus irrte sie nach Hause.

Aus dem Kind ist eine junge Frau geworden, Energie und Kompromisslosigkeit bei der Durchsetzung ihrer Absichten hat Irina Nikitina Haefliger sich bewahrt. Zur Zeit richtet sie alle Kraefte auf ihr eigenes Festival, den Musical Olympus, der in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindet.

Die Idee ist genial einfach. Irina laedt die Preistraeger internationaler Musikwettbewerbe nach Sankt Petersburg und laesst das Publikum einen fruehen Blick in die musikalische Zukunft werfen. In diesem Jahr ist der Geiger Nikolaj Znaider dabei, Gewinner des Queen-Elizabeth-Preises sowie der Schlagzeuger Markus Leoson, der beim Muenchner ARD-Wettbewerb siegte. Und zum ersten Mal hat ein junger Komponist, Anton Sofronow, Gelegenheit, seine Werke vorzustellen. Insgesamt sind etwa 25 Teilnehmer in acht Konzerten zu hoeren.

Irina Nikitina Haefliger hat noch zu Zeiten der Sowjetunion eine internationale Karriere als Konzertpianistin begonnen. Dabei lernte sie ihren Mann, den Schweizer Geiger Michael Haefliger kennen. Schweizer Freunde waren auch die ersten, die 1996 Irinas Festival-Idee unterstuetzten und einen Foerderverein gruendeten.

Irina Nikitina bei der Vorbereitung des Festivals: Wie ein elektrischer Funke jagt sie durch die Stadt - von Palaesten in Trabantenstaedte. Fruehbesprechung im "Grand Hotel Europe". Sankt Petersburgs luxurioesestes Hotel ist einer der wichtigsten Sponsoren des Festivals. Aber wird es genuegend Zimmer geben? Schliesslich faellt das Festival zusammen mit den weissen Naechten, in denen die Sonne in Sankt Petersburg nicht untergeht und Gaeste aus aller Welt miterleben wollen, wie die Stadt in unirdisch sehnsuechtige Euphorie verfaellt. Naechste Station ist der lokale Fernsehsender, wo an einem Film ueber den letzten Musical Olympus gearbeitet wird: Konzerte auf hoechstem Niveau, aber auch spontane Jazz-Improvisationen der Klassiktalente, die beweisen: Der Olympus ist ein froehliches und gleichzeitig ein sehr junges Festival. Weiter geht die Fahrt in babylonisch wirkende Wohnsilos. In einem hat der poetische Bildhauer Viktor Schuvalow seine Werkstatt; ein klappriger Lift faehrt unters Dach, wo der Maler Anatoly Annenkow sich auf seinen Bildern ins antike Aegypten traeumt. Mit den Kuenstlern organisiert Irina eine Ausstellung zum Festival. Diesmal will sie nicht nur Musik bieten, sondern auch Einblicke in die Petersburger Kunstszene.

Auf dem Rueckweg in die Stadt zeigt sie das Haus, in dem sie aufwuchs. Obwohl ihr Vater Cellist bei den Philharmonikern war und die Mutter Wissenschaftlerin, lebte die Familie in einer Kommunalwohnung, in der sechs Familien Koch- und Waschgelegenheiten teilten. Viele wohnen heute noch so. Hier liegt auch der Grund fuer Irina Nikitinas Power: In den UEberlebenskaempfen harter Umbruchzeiten will sie St. Petersburgs Kultur erhalten, beleben und Menschen in die Stadt ziehen, die mehr erwarten als weisse Naechte und mehr mitbringen, als nur Business pur.

 

Author: Bernd Skupin  Edition: VOGUE   Date: 01.05.1998