on 04 July 1996

Zusammenbruch, Umbruch, Aufbruch

"Musical Olympus" in St. Petersburg


Als sich Ende Mai und Anfang Juni junge, preisgekroente Instrumentalisten und Dirigenten zum ersten Festival "Musical Olympus" in St. Petersburg einfanden, stand die alte, ehrwuerdige Fuenf-Millionen-Metropole im hoffnungsvollen Gruen ihrer Parkanlagen, im bedrueckenden Grau eines alltaeglichen Ueberlebenskampfes und natuerlich auch im bunten Farbenwechsel des Praesidentschaftswahlkampfes. Im Zentrum da und dort ein Handzettelverteiler, am Sonntag ein Aufmarsch Uniformierter mit strammer Musik auf dem praechtigen Newski-Prospekt.

In Zeiten wie diesen kulturelle Initiativen zu wagen scheint im ersten Moment das Resultat blinden, egoistischen Veranstalteruebermuts zu sein. Aber nicht nur das starke Kunstengagement etwa deutscher Industrieriesen im wirtschaftlich maroden Ruhrgebiet belegt es; auch die kaempferische Insistenz kleiner Gemeinden in mitteleuropaeischen Rezessionsgebieten, in der Hoffnung auf langfristige Gewinne weiterhin in den Luxustopf von Bildung und Kultur einzuzahlen, laesst die Hoffnung nicht ganz schwinden, Politik und Gesellschaft haette da und dort schon eingesehen, wie verheerend es sich auswirkt, bei der Kultur den Rotstift anzusetzen.

Mehrfachstrategie

Hinter dem Festivalkonzept "Musical Olympus" steckt eine raffinierte Mehrfachstrategie. Zum einen gibt es weltweit wohl kaum eine Veranstaltungsserie, die es einem ermoeglicht, die Sieger bzw. Preistraeger internationaler Musikwettbewerbe ohne komplizierte Reisetaetigkeit und Terminabstimmung kennenzulernen bzw. wiederzuhoeren. Hier hat die Festivalsgruenderin und -direktorin Irinia Nikitina - ausgebildete Pianistin und eine Kennerin der internationalen Szene - eine Marktluecke entdeckt, gar nicht zu reden von der voelkerverbindenden Atmosphaere einer solchen Zusammenkunft von hochqualifizierten Musikern, denen der gedankliche Austausch mit Schicksalsgenossen von Nutzen sein kann. Fuer die spezielle Situation in St. Petersburg eroeffnet diese Festivalidee jedoch zusaetzlich einen Ausweg aus einer finanzpolitischen Zwangslage. Wie es bei der Leitung der St. Petersburger Philharmonie heisst, ist man derzeit zwar in der Lage, den einen oder anderen teuren und zugkraeftigen Kuenstler aus dem Westen einzuladen, weil man unter Umstaenden auf Entgegenkommen bei der Gage hoffen darf, aber auch mit den Eintrittspreisen Kostendeckung anstreben kann. Die Budgets sind freilich durch solche konzertante Spezialangebote so angespannt, dass praktisch kein Geld mehr bleibt, um juengere, weniger bekannte Interpreten ins Land zu holen, mit denen man die schoenen und zum Teil auch akustisch hervorragenden Saele natuerlich nicht annaehernd fuellen koennte.

Auf dem "Musical Olympus" versammeln sich die Sieger etwa der Wettbewerbe von Muenchen (ARD), Zuerich ("Geza Anda"), Bruessel (Concours Reine Elisabeth), Augsburg ("Leopold Mozart") und Leeds zum Nulltarif, das heisst: ihnen werden Reise und Aufenthaltskosten verguetet. Darueber hinaus zielt das Festival in Zusammenarbeit mit St. Petersburger Konzertveranstaltern insofern auf Synergieeffekte, als die Preistraeger in Einzelfaellen in den Abonnementsbetrieb etwa der Philharmonie mit einbezogen werden. So kam es fuer den jungen, berragend begabten und auf eine eigentuemlich sanfte Weise durchsetzungsfaehigen deutschen Pianisten Markus Groh zu einer geradezu bewegenden Allianz mit dem Dirigenten Maxim Schostakowitsch. Unter seiner kaempferischen, nach aussen hin recht eckigen, aber spuerbar von Herzen kommenden Leitung spielte Groh, der Sieger des Concours Reine Elisabeth 1995, das d-Moll-Konzert von Brahms. Groh und etliche seiner Preistraegerkollegen durften nach der Pause in familiaerer Authentizitaet die Fuenfte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch am Ort ihres legendaeren kuenstlerischen Entstehens erleben.

Der Festivalverlauf brachte freilich nicht nur hochmotivierte Orchesterleistungen wie jene unter Maxim Schostakowitschs gluehender dirigentischer Nachlassverwaltung. Es ist, wenn man die St. Petersburger Sinfoniker oder die vor allem im Blaeserapparat voellig ueberforderte St.-Petersburg-Camerata hoert, als spiegelten sich die Lebens- und Orientierungskaempfe im mueden, vage organisierten Strich und im stockenden Atem wider. Man leistet nicht mehr, als unumgaenglich noetig ist. Wer wuerde sich denn bei uns mit Enthusiasmus Beethovens Es-Dur-Orchesterpart (op. 73) widmen, wenn eine lausige Fischsuppe in zentraler Lokalitaet fast so viel kostet wie eine Compact Disc und diese wiederum teurer ist als das Ganzjahresabonnement eines Orchesterzyklus im Angebot der Philharmonie?

St. Petersburg versucht den Anschluss an Europa zu halten und neue, zukunftstraechtige Verbindungen aufzubauen. Parallel zum "Musical Olympus" wurde von Buergermeister Anatoli Sobtschak ein kulturpolitisches Treffen unter dem Motto des Europa-Gedankens eroeffnet. Mit viel "Programm", wenigen Inhalten und noch weniger greifbaren Entscheidungen. Aber solche Repraesentationsakrobatik zeigt, wie man wenigstens symbolisch Veraenderungs- und Westorientierungsbereitschaft in die grenzueberschreitende Diskussion wirft.

Hoffnungstraeger Kirow

Ein paar Tage spaeter war Sobtschak als Buergermeister abgewaehlt, und ueber dem Direktionsgipfel des "Musical Olympus" zogen sich dunkle Wolken zusammen. Denn es bleibt abzuwarten, ob der neue Mann die zarte Pflanze "Festival" unterstuetzen oder wenigstens unbehindert gedeihen lassen wird. Etwa so gedeihen lassen wie das benachbarte Kirow-Theater, das inzwischen wieder Marinski-Theater heisst, auf Schallplatten jedoch unter der Leitung seines fulminanten Chefdirigenten Valйry Gergiev weiter unter dem bekannten Namen Kirow fuer St. Petersburg wirbt. Gergiev zeigt sich im Gespraech realistisch und idealistisch zugleich. Die Projekte fuer sein Theater lassen an Mut und Menge nichts zu wuenschen uebrig. Mit jungen, interessierten Saengern plant er u. a. eine komplette Auffuehrung des Wagnerschen "Ringes". Hier und unter der ehrgeizigen Fuehrung Gergievs zeichnet sich vielleicht am deutlichsten ab, was diese Kunst- und Musikstadt hinter ihren monumentalen Fassaden dereinst wieder fuer ein Leben fuehren und wie sie ueber ihre Grenzen hinaus ausstrahlen koennte.

Author: Peter Cosse   Edition: Neue Zuercher Zeitung   Date: 04.07.1996