on 19 June 1997

Kuessen gehoert zum Handwerk

Der Aufstieg zum Olymp war schon immer beschwerlich; zumal mit Geigen, Klavieren, Klarinetten, Marimbas und vollem Orchester im Klettergepaeck. Er setzt Enthusiasmus, Koennerschaft und Stehvermoegen, zumindest musikalischer Art, voraus. Der "Olympus Musicus", das alljaehrliche und nun schon zum dritten Mal in St. Petersburg durchgefuehrte Festival der internationalen Musikwettbewerbs-Sieger, ist eine Herausforderung aller bergsteigerisch interpretatorischen Kraefte. Zur Teilnahme eingeladen zu werden, gleicht einem Ritterschlag von einzigartig kennerischer und gleichzeitig zu hoechst liebenswuerdiger Hand.

Sie gehoert der unwiderstehlichen Irina Nikitina, einer jungen Pianistin mit weitreichenden internationalen Verbindungen. Sie kann den Preistraegern, die bei ihr auftreten, keine Gagen zahlen, aber die Blumen und Umarmungen nach dem Auftritt der jungen Kuenstler sind ihnen wahrscheinlich Auszeichnung und Ansporn genug, zu schweigen von den Kuesschen auf beide Wangen, mit denen Irini Nikitina nicht geizt. Im gluecklichen St. Petersburg gehoert selbst Kuessen offenbar zum musikalischen Handwerk.

Dieses sechstaegige Festival ist Nikitinas Erfindung, und es war hoechste Zeit, es sich einfallen zu lassen. Der Nachwuchs draengt den immer helleren Haufen aus einer sich stetig vergroessernden Zahl von Wettbewerben an die Oeffentlichkeit, aber selbst die Sieger muessen um jede Auffuehrungsmoeglichkeit auf den Konzertpodien kaempfen. Schwerer als eine fachmaennische Jury fuer sich einzunehmen, ist es ueberdies, das Publikum fuer sich zu gewinnen und dies auf Dauer. Der "Olympus Musicus" schlaegt erste stabile Haken in die Kletterwand hinauf zu musikalischem Ruhm.

Der allerdings ist auf dem St. Petersburger Olymp nicht von vornherein garantiert. Todsichere Favoriten leiden ploetzlich unerfindlicherweise an Schwindelanfaellen. Manche spielen geradezu imponiersuechtig daher und hinterlassen ein Schlachtfeld von toten Noten. Andere spielen selbst in Abwesenheit von Kameras wie fuer das Fernsehen auf oder vertrauen blindlings ihren Friseuren. Der Sog der Show ist inzwischen schier unabweisbar gross.

St. Petersburg ist natuerlich ein gluecklicher Ort fuer diesen "Olymp". Es besitzt wundervolle Saele und ein besonders liebenswuerdiges Musikpublikum. Man spielt in der altadligen Philharmonie; ausserdem in ihrem Kammermusiksaal und im Halbrund des Amphitheaters der Eremitage.

Natuerlich ist es keine geringe Kunst, hier, auf dem Aussenposten des internationalen Musikbetriebs, ein Festival zu organisieren, zumal wenn ein Air France-Streik die vom Terem-Quartett benoetigte, selbstgebaute Bass-Balalaika vom Format eines Suedsee-Riesenrochens in Paris festhaelt. Am Ende aber rangiert sich mit einem Nikitina-Laecheln alles.Bislang war der daenische Geiger Nikolaj Snaider (23) hervorstechendster Kuenstler auf dem diesjaehrigen Musik-Olymp, der eine Stradivari spielte, die ihm Japan zur Verfuegung gestellt hat. Snaider ist Gewinner des vorjaehrigen Koenigin-Elisabeth-Wettbewerbs in Bruessel. Er spielte Max Bruchs a-Moll-Konzert bemerkenswert unverzaertelt und entsentimentalisiert. Lord Menuhin hat offenbar nicht zu Unrecht Snaider als Nachfolger von Ysaye geruehmt, denn eine von dessen Solo-Sonaten spielte Snaider mit nachhaltiger Wirkung als Zugabe.

Auch der schwedische Klarinettist Martin Froest gewann alle Sympathien mit seinem Vortrag der 1. Rhapsodie von Debussy. Als dritter im musikalisch skandinavischen Bunde schlug der Schwede Markus Leoson die Marimba, der Sieger im Muenchner ARD-Wettbewerb fuer Schlagzeuger. Er trommelte sich mit Anstand durch Ravels "Bolero" in einer Auffuehrung, von der sich der grosse Franzose nichts hatte traeumen lassen: einem Arrangement fuer drei Balalaikas plus Akkordeon. Ob nun Ole oder o weh - so hoert man den Bolero nun wirklich nicht alle Tage.

 

Author: Klaus Geitel  Edition: Berliner Morgenpost   Date: 19.06.1997